«Schon vor der Reise verstehst du die Hölle, die dich erwartet»

09. März 2023 | von Simone Häberli
Yvan Sagnet über die sklavenähnlichen Bedingungen in der Landwirtschaft in Italien

Vor allem junge Arbeitskräfte mit Migrationsgeschichte werden in Süditalien von Betrieben illegal nur für einzelne Tage angestellt und verdienen dabei oft nur wenige Euros am Tag – ohne Arbeitsvertrag, ohne Versicherung und ohne Sicherheit. Es herrschen dabei oft sklavereiähnliche Bedingungen. Politaktivist und ehemaliger Feldarbeiter Yvan Sagnet hat an unserer Tavolata Speciale in Zürich von seinem erfolgreichen Kampf gegen diese Ausbeutung in der Landwirtschaft in Süditalien erzählt. Sehr berührt, nachdenklich, aber auch dankbar blieben wir zurück. Denn wir haben alle viel gelernt.

1200 Kilo Tomaten pro Tag

Es ist Hochsommer bei 42 Grad in Süditalien. 25 Feldarbeiter fahren stehend in einem Lieferwagen mit 9 Plätzen über 100 km. Die Hände und der Rücken schmerzen noch von hunderten Tomatensetzlingen am Vortag. Mittendrin der junge Yvan Sagnet aus Kamerun. Auch er wird wie die anderen Arbeiter*innen pro Kiste à 300 kg Tomaten bezahlt. Pro Tag erhält er 14 Euro – brutto. Denn davon abgezogen werden noch der Transport, ein Sandwich und etwas Wasser. Es bleiben 4 Euro für 16 Stunden Arbeit. An unserer Tavolata in Zürich berichtet der ehemalige Feldarbeiter und Politaktivist ruhig und gleichzeitig schonungslos von seinem schlimmen Schicksal auf den Feldern in Italien, das er als junger Student erlebt hat:

«Schon vor der Reise verstehst du die Hölle, die dich erwartet. Wenn dann die Arbeit beginnt, kommt eine weitere, doppelte Hölle.»

Yvan Sagnet, ehemaliger Feldarbeiter und Aktivist für bessere Arbeitsbedingungen in Italien

So erging es nicht nur Yvan Sagnet, sondern auch Hunderttausenden von weiteren Arbeitnehmenden in Italien. Und so ergeht es ihnen auch heute noch. Gegen diesen Missstand der sozialen Ausbeutung in der Landwirtschaft kämpft Yvan Sagnet nun mit dem Verein NoCap an. «Cap», kurz für Caporalato, steht für die illegale Form der Anwerbung von Arbeitskräften. Zusammen mit seinen Mitstreiter*innen setzt Yvan sich für die Rechte der Arbeiter*innen ein und leistet sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf politischer Ebene wichtige Aufklärungsarbeit. Dank der Arbeit von NoCap wurde in Italien zum Beispiel ein Gesetz gegen «Caporalato», d.h. die Ausbeutung der Arbeiter*innen durch Mittelsmänner, verabschiedet. Aktuell profitieren 1’200 Arbeiter*innen von der Arbeit von NoCap und damit von legalen, menschenwürdigen Anstellungsbedingungen. Das soll aber erst der Anfang sein, da rund 400’000 migrantische Arbeitskräfte von ausbeuterischen Bedingungen in der italienischen Landwirtschaft betroffen sind.

«Die Verhaftung eines Ausbeuters ändert oft nicht viel. Die effektivste Waffe ist das Bewusstsein der Konsumenten und Konsumentinnen.»

Yvan Sagnet, ehemaliger Feldarbeiter und Aktivist für bessere Arbeitsbedingungen in Italien

Yvan Sagnet unterstreicht in seinen Erzählungen immer wieder, wie wichtig neben seiner Arbeit das eigene Kaufverhalten sei. Welche Art von Lebensmittel wollen wir zu Hause auf unserem Tisch haben? Woher kommen die Tomaten und Orangen, die wir essen? Wurden die Menschen, die sie geerntet haben, versklavt und ausgebeutet? Die Wahl guter Lebensmittel ist immer auch ein politischer Akt, der den Betrieben und Arbeitnehmern in der Lebensmittelkette die Würde verleiht, die sie verdienen.

Die zentrale Rolle der Gastronomie

Der Zürcher Profikoch und nachhaltige Gastronom Andi Handke begleitete die Tavolata kulinarisch mit einem leckeren pflanzlichen 3-Gang-Menü mit ausgewählten Crowd Container Produkten. Dem Thema der Ausbeutung in der Landwirtschaft ist sich Andi Handke schon lange bewusst. Er serviert in seinem Betrieb und an Anlässen darum ausschliesslich Produkte, deren Herkunft und Bedingungen er kennt. Andi Handke betont die zentrale Rolle der Gastronomie. Köche und Köchinnen haben eine riesige Chance, ein Umdenken bei den Konsumenten und Konsumentinnen zu forcieren. Sie sind es, die in der Küche entscheiden, was gekocht und den Gästen serviert wird:

«Lieber einen Fernseher oder ein Handy weniger kaufen, dafür das Geld in Lebensmittel investieren. Das wirkt sich unmittelbar auf die eigene Gesundheit, aber auch auf den ganzen Planeten aus.»

Andi Handke, Profikoch und Food-Aktivist

Bio bedeutet nicht immer fair & ethisch

Eines wurde durch Yvans persönliche und berührende Erzählungen vermutlich allen Gästen an diesem Abend klar: Beim Einkaufen ist es nicht nur wichtig, darauf zu schauen, dass die Lebensmittel ökologisch produziert wurden. Wir müssen auch berücksichtigen, unter welchen sozialen und ethischen Bedingungen die Produkte hergestellt, geerntet oder geliefert wurden – wer die Menschen dahinter sind.

«Dass beim Bio-Label oftmals nur die ökologische Perspektive, nicht aber die soziale Ebene abgedeckt ist, das war mir neu und wurde mir heute erst richtig bewusst.»

Olivia, Tavolata-Teilnehmerin in Zürich

100% sozial und ökologisch produziert:

Simone Häberli

Die leidenschaftliche Gemüsegärtnerin bindet unsere Community aktiv mit ein und liebt es, die richtigen Menschen miteinander zu vernetzen.

2 Kommentare

  1. Veröffentlicht von Antonella am 11. März 2023 um 11:24

    Dazu empfehle ich auch den Film „Das Neue Evangelium“ von Milo Rau von 2019, in dem sehr eindrücklich die Ausbeutung gezeigt wird.

  2. Veröffentlicht von Christa Wyss am 11. März 2023 um 8:49

    Unglaublich, dass 2023 immer noch Menschen ausgebeutet werden auf den Feldern Europas. So wichtig ist ihre Arbeit, damit den KonsumentInnen die Augen geöffnet werden. Danke!!!

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